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Komplexes Puzzle

Nach Patentablauf dürfen Medikamente nachgebildet werden. Doch das ist gar nicht so einfach, besonders, wenn es um biologische Arzneimittel geht. Diese bestehen aus hunderten von Protein-Bausteinen

 

und die Rezeptur gibt es nicht im Internet. Wie sie beim Biosimilar-Entwickler Formycon ein Arzneimittel erst in seine Einzelteile zerlegen, diese dann neu zusammenfügen – und damit die Gesundheitssysteme entlasten.

Im hellen Licht ihres Münchner Labors blicken Menschen in weißen Kitteln durch Schutzbrillen auf Monitore mit komplizierten Graphen. Eine von ihnen hält ein kleines Röhrchen in den Lichtkegel der Laborlampe: „An diesen paar Tropfen“, sagt sie stolz, „haben wir etwa sieben Jahre gearbeitet.“

Die Biochemikerin Dr. Christina Wolf (43) leitet ein Team aus Wissenschaftler:innen der Molekularbiologie, Biotechnologie, Proteinchemie und Pharmazie. Sie alle haben bei Formycon ein gemeinsames Ziel: Biosimilars entwickeln. Dafür aber müssen sie hochkomplexe Moleküle nachbilden – und zwar ohne Rezeptur oder Anleitung.

Biosimilars können – ähnlich wie Generika – nach Patentablauf auf den Markt kommen. Aber anders als Generika werden Biosimilars nicht chemisch hergestellt. Das „Bio“ im Namen verrät ihre Besonderheit. „Es sind Arzneimittel, die in lebenden Zellen hergestellt werden“, sagt Wolf. Sie helfen gegen schwere Erkrankungen, wie Krebs, Morbus Crohn oder altersbedingte Augenkrankheiten.

Die Firma Formycon in der Nähe von München wurde 2012 von zwei Pharma-Managern gegründet. Wolf ist seit den Anfängen dabei. Damals war sie eine von knapp 40 Mitarbeitenden. Heute sind hier 250 Menschen beschäftigt. Was als Startup anfing, ist mittlerweile ein Unternehmen, das im SDAX und TecDAX der Deutschen Börse gelistet ist. Dort ist es fast eine Milliarde Euro wert.

Das Konzept der Formycon: Fokussieren! Viele Pharmafirmen stellen sich breit auf und haben diverse Medikamente im Portfolio, etwa Generika, patentgeschützte Produkte und nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel, die in Apotheken zu kaufen sind. Nicht so Formycon. Ihr ganzes Wirken ist ausschließlich auf Biosimilars ausgerichtet. In zwölf Jahren haben sie hier drei Biosimilars entwickelt und bis zur Marktzulassung gebracht. Weitere sind geplant und aktuell in verschiedenen Entwicklungsstadien.

„Bevor wir Biosimilars entwickeln können, müssen wir verstehen, was wir überhaupt nachbauen wollen“, sagt Wolf. „Dafür untersuchen wir die molekularen Bausteine des sogenannten Referenzarzneimittels und schauen: Woraus bestehen diese und auf welche Weise sind sie miteinander verknüpft?“ Das ist extrem wichtig, denn die Anordnung und die Eigenschaften der Bausteine bestimmen maßgeblich, wie wirksam und sicher das Arzneimittel ist. „Weil aber jeder biologische Wirkstoff ein bisschen anders ist, gibt es nicht die eine Blaupause“, so Wolf weiter. „Wir müssen jeden Wirkstoff individuell analysieren und unsere Herstellprozesse immer wieder entsprechend anpassen.“

Ein Biosimilar entwickeln – das kann man sich wie ein komplexes Puzzle vorstellen. Nur dass nicht sofort klar ist, welches Bild es darstellt. Erst nachdem es auseinandergenommen und die einzelnen Teile präzise analysiert sind, erkennen die Wissenschaftler, was sie sehen – und aus was für tausenden unterschiedlichen Elementen es besteht. „Letztlich wollen wir wissen: Wie hält das Puzzle zusammen und wo sind vielleicht Teile austauschbar – ohne dass das die Wirksamkeit und Stabilität gefährdet?“

Heraus kommt am Ende ein Antikörper. Das ist ein Protein, das vom Immunsystem eingesetzt wird, um Bakterien und Viren zu neutralisieren. Gentechnisch modifiziert und als Arzneimittel eingesetzt können sich Antikörper auf Krebszellen setzen, um diese für das Immunsystem erkennbar zu machen, welches sie daraufhin angreift und abtötet.

Dabei ist ein Antikörper ein komplexes Gebilde. „Alltägliche Medikamente, wie etwa Aspirin, sind relativ einfach herzustellen“, sagt Dr. Wolf. „Die bestehen aus wenigen chemischen Molekülen – biologische Arzneimittel hingegen aus tausendfach gefalteten Protein-Ketten.“ Die Herstellung von Generika und Biosimilars lasse sich deshalb kaum vergleichen. „Es ist kein Unterschied wie zwischen Äpfeln und Birnen, sondern eher wie zwischen einem einzelnen Apfel und einem ganzen Birnbaum, samt seiner verflochtenen Wurzeln im Erdreich“, erklärt Wolf.

Video zeigt unterschiedliche Komplexität: Generika vs. Biosimilars

Der ganze Prozess – vom Einkauf des Referenzarzneimittels, über die Entwicklung des Biosimilars bis zu dessen Anwendung beim Patienten – kann acht bis zehn Jahre dauern und bis zu 300 Millionen Euro kosten. Viel Aufwand, der sich lohnt. Der globale Markt für Biosimilars ist seit Jahren auf Wachstumskurs. In den nächsten Jahren laufen zahlreiche weitere umsatzstarke biologische Arzneimittel aus dem Patentschutz.

Biosimilars sind auch deshalb auf dem Vormarsch, weil sie nicht nur die Verfügbarkeit der Arzneimittel verbessern, sondern gleichzeitig die Gesundheitssysteme entlasten: Denn einmal zugelassen, sind sie deutlich günstiger im Vergleich zur Therapie mit dem Referenzarzneimittel.

So kosten beispielsweise die Biosimilars des einst umsatzstärksten Medikaments Humira® mit dem Wirkstoff: Adalimumab (Jahresumsatz: ca. 20 Milliarden Euro) in Deutschland inzwischen 44 Prozent weniger als die Krankenkassen vor dem Patentablauf zahlen mussten. Eine massive Entlastung für das deutsche Gesundheitssystem: 2023 wurden insgesamt knapp zwei Milliarden Euro eingespart – einfach, indem Biosimilars anstelle von Referenzarzneimitteln verordnet wurden.

Die Aussicht, mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems zu leisten und Patient:innen zu helfen, treibt das Formycon-Team weiter an. Nach den drei Wirkstoffen, zu denen das Unternehmen bereits marktreife Biosimilars entwickeln konnte, hat man hier neue, große Pläne. „Wir arbeiten derzeit an weiteren Antikörpern zur Behandlung schwerwiegender Erkrankungen“, sagt Wolf und ist zuversichtlich, dass sie irgendwann auch diese neuen Puzzles auseinandergebaut und neu zusammengesetzt haben wird.

Europa – ein starker Standort für Biosimilars

Kein anderes Segment des gesamten Pharmamarkts wächst so schnell wie das der Biosimilars. Machte deren Umsatz 2023 weltweit noch 30 Milliarden US-Dollar aus, gehen Prognosen des Online-Portals Statista von knapp 130 Milliarden US-Dollar im Jahr 2032 aus.

Dabei ist Europa der führende Kontinent für die Entwicklung und Produktion von Biosimilars – und eine herausragende Rolle spielt Deutschland. Inmitten einer allgemeinen Wirtschaftskrise ist die Biosimilar-Branche eine der wenigen, die hierzulande Wachstum generiert.

Fehlende Anreize zur Entwicklung von Biosimilars könnten sonst zu einer kritischen Lücke führen. Diese könnte nicht nur die Gesundheitssysteme erheblich finanziell belasten, sondern auch vielen Patienten den Zugang zu lebenswichtigen Therapien verwehren.

Um den Standort Europa zu stärken, darf nicht allein ein möglichst niedriger Preis ausschlaggebend sein, sondern auch die Qualität, Sicherheit und die Robustheit der Lieferketten. So kann Europa sich gegenüber der globalen Konkurrenz gut positionieren.

Alle Antworten zu Biopharmazeutika

Ob bei Krebs, Rheuma oder Multipler Sklerose — Biopharmazeutika bieten neue Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Erkrankungen bieten. Nach Patentablauf können verschiedene Hersteller Nachfolgeprodukte auf den Markt bringen: die Biosimilars.

Zum FAQ

Was macht die Herstellung komplex?

Biopharmazeutika werden in lebenden Organismen erzeugt — etwa in gentechnisch veränderten Säugetierzellen. Anders als chemisch-synthetische Wirkstoffe bestehen sie aus Tausenden Atomen.

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